Brief von Gino zur Anhörung am 12.3.

Über Ginos Auslieferung wird seit November 2024 in Frankreich verhandelt. Bislang konnte Ungarn Frankreich noch keine ausreichenden Zusicherungen und Informationen liefern, die für eine Auslieferung sprechen würden. Am 26.3. wird über Ginos Verlegung in den Hausarrest entschieden und am 9.4. über seine Auslieferung.

    In Fresnes herrscht Chaos, das kann schon nerven: Ich musste lange warten, bis ich meine Freundin anrufen konnte… Wir hatten schon während des Treffens in meiner Zelle darüber gesprochen, beim Besuch der Abgeordneten Thomas Portes und Raphaël Arnault Anfang Februar. Aber abgesehen davon geht es mir schon besser als noch direkt nach meiner Verhaftung vor vier Monaten, weil die Solidarität sofort losging.

    Ich habe Kleidung, Bücher, Briefe, Postkarten bekommen. Es macht einen großen Unterschied zu wissen, dass meine Familie, meine Freunde, meine Genossen mir nahe stehen, dass ich Post lesen oder beantworten kann oder mir über die Kantine Essen kaufen kann, um selbst zu kochen. Ansonsten würden die Essensbehälter, die jeden Tag kommen, nicht ausreichen für mich, da ich Vegetarier bin.

    Wofür steht Orbáns Ungarn?

    Seit dem Fall der Berliner Mauer und der Auflösung des Warschauer Paktes hat Ungarn, wie andere Länder Osteuropas, wie durch Magie die Demokratie wiederentdeckt, nur weil sie ihm erlaubte, sich dem globalen kapitalistischen Markt zu öffnen.

    In Wirklichkeit war Viktor Orbán immer ein Bürokrat, der in Begleitung seiner Oligarchen sein Land mit falschen Gesicht und unter Verwendung von Begriffen wie Demokratie führte, um seine Machtergreifung im Staat zu verschleiern, ohne jemals die Gewaltenteilung zwischen Exekutive und Justiz zu respektieren. Heute ist das Ergebnis in Ungarn, dass die politischen Führer sich im Recht fühlen, jedermann ohne Prozess zu verurteilen, und sie haben die Macht, das Justizsystem tiefgreifend zu beeinflussen.

    Der europäische Kontinent durchläuft eine graue Periode. Sehr, sehr grau. All das kündigt Zeiten an, die noch düsterer werden könnten. Ein großer Teil der ehemaligen Länder des Ostblocks befindet sich nun in den Händen rechtsextremer Parteien; die anderen entwickeln immer konservativere Politik. Und diejenigen, die den westlichen Teil des Kontinents ausmachten, ob im Süden oder im Norden – mittlerweile ist es weniger wichtig als früher – gleiten in Richtung von Rechtsextremismus und Neofaschismus.

    Denn für diesen, wie es bei den ersten Faschismen des 20. Jahrhunderts der Fall war, gilt es, den Kapitalismus der Großindustrie zu retten, indem man das Recht auf Arbeit langsam oder schnell abschafft. Und gleichzeitig einen Sündenbock in den Vordergrund zu stellen, dem man die Verantwortung für alle Probleme aufbürden kann: die Migranten, LGBTIQ, die Ökologen, die Linken…

    In Budapest: „normale“ Faschisten und antifaschistische „Terroristen“

    Anfangs waren die Demonstrationen und neonazistischen Kundgebungen im Zusammenhang mit dem „Tag der Ehre“ (der an den „Heroismus“ der Wehrmacht, der SS und der lokalen Kollaborateure während ihrer vernichtenden Niederlage gegen die Rote Armee im Februar 1945 erinnert) offiziell verboten.

    Aber in der Praxis ist es ganz anders, und die Straßen von Budapest und Umgebung werden jedes Jahr im Februar überrannt. Und alles wird in den Berichten des ungarischen Fernsehens, in den Presseartikeln oder in den sozialen Netzwerken der Führer der Partei von Viktor Orbán (Fidesz) oder der Regierungsbeamten verdreht: es sind die Antifas, die als „Kriminelle“ abgestempelt oder beschuldigt werden, „Terroristen“ zu sein.

    Es ist eine komplett politische Angelegenheit. Man muss sich fragen, warum diejenigen, die als „extremistische Antifaschisten“ bezeichnet werden, von der ungarischen Justiz verfolgt werden (denn verfolgt [persecuté] ist der richtige Begriff). Und es sind die einzigen… Während derselben Tage im Februar 2023 befanden sich Menschen mit gegensätzlichen politischen Ansichten auf den Plätzen von Budapest.

    Die Polizei und die lokalen Zeitungen konnten nur erwähnen, dass noch vor Beginn der von den Neonazis geplanten Veranstaltungen Anwohner, Bürger und Touristen von faschistischen Elementen angegriffen und zusammengeschlagen wurden, die an der internationalen Kundgebung der extremen Rechten teilnahmen. Alle wurden nach weniger als 24 Stunden in Gewahrsam freigelassen, und keiner von ihnen wurde vor Gericht gestellt.

    Warum hat man sofort aufgehört, über die Gewalt zu sprechen, die von Fans des Hakenkreuzes und des SS-Totenkopf ausgeübt wurde, oder derjenigen, die sich schamlos als Nazi-Soldaten oder -Kommandeure verkleiden? All diese gefährlichen und gewalttätigen Typen, die in Budapest rassifizierte Menschen und Minderheiten angegriffen haben, sind für Orbáns Polizei einfach „gewöhnliche Bürger“.

    Unmenschliche Behandlung in den Gefängnissen, völlig pervertierte Justiz

    Sobald Ilaria Salis und Tobi E. (zwei von Ginos Genossen – Anm. d. Red.) im Februar 2023 verhaftet wurden, und noch mehr, als Nachrichten über sie in der internationalen Presse erschienen, starteten die ungarischen Machthaber einen Feldzug gegen die Antifaschisten, anstatt sich beispielsweise an die Unschuldsvermutung zu halten oder gemäßigt auf Kritik an der unmenschlichen Behandlung der Häftlinge zu reagieren… Ilaria wurde monatelang ohne triftigen Grund in Isolationshaft gehalten.

    Man nahm ihr Kleidung und Hygieneartikel weg. Sie hatte keine Seife zum Duschen. Und ihre Zelle war von Ratten und Insekten befallen. Ilaria hatte keinen Zugang zu jeglicher Form der Kommunikation mit der Außenwelt, mit ihrer Familie und ihren Angehörigen. Monatelang konnte sie nur mit ihrem Anwalt oder der italienischen Botschaft sprechen. Ihrem Vater konnte sie erst sechs Monate nach ihrer Verhaftung schreiben.

    Maja, ein.e andere Genoss.in, von Deutschland ausgeliefert, befindet sich heute unter den gleichen Bedingungen. Und ich bin mir überhaupt nicht sicher, ob Maja Zugang zu Grundrechten hat, wie z.B. um mit Angehörigen zu sprechen oder aus der totalen Isolation herauszukommen. Bei der ersten Gerichtsverhandlung hatte der Staatsanwalt Ilaria eine Strafe von 11 Jahren Gefängnis „angeboten“, wenn sie sich schuldig bekenne. Wenn sie sich weigere, drohten ihr maximal 24 Jahre. Heute zahlt Maja den Preis für den von Ilaria begonnenen Widerstand. Ich selbst riskiere 16 Jahre Haft.

    Frankreich und seine politische Tradition, eine Intuition, die sich bestätigt.

    Warum bin ich nach einer ersten Verhaftung in Finnland, dem Land, in dem ich seit Jahren lebe, in Frankreich gelandet? Ich habe keine endgültige Antwort. Ich bin nicht nach Italien zurückgekehrt, weil mein Anwalt mir zunächst davon abgeraten hatte, dort Zuflucht zu suchen.

    Auch wenn das Mailänder Berufungsgericht die Auslieferung einers anderen Genossen ablehnte, weil die notwendigen Garantien für die Unabhängigkeit der Justiz und den Schutz der Integrität der Person von Ungarn nicht gewährleistet wurden… Logischerweise hätte Finnland mit Richtern, die anderen Richtern folgen müssten, meine Auslieferung ablehnen müssen, aber sie sahen offenbar nicht die gravierenden Mängel in Bezug auf Rechtsstaatlichkeit in Ungarn. Ich bin in Paris angekommen, um mir etwas mehr Zeit zu nehmen und zu verstehen, wie sich die Situation entwickeln wird.

    Sicher, ich wusste, dass ich das Risiko eingehen würde, verhaftet zu werden… Aber ich wusste auch, dass Frankreich aufgrund seiner politischen Tradition in einem so umstrittenen politischen Fall aufmerksamer sein und die Freiheiten besser gewährleisten würde. Wie eine Handvoll anderer europäischer Länder verfügt Frankreich über eine große Anzahl politischer, sozialer und bürgerlicher Organisationen, die die Menschenrechte, soziale und politische Rechte verteidigen.

    Und meine Überzeugung wurde durch die Unterstützung bestätigt, die ich hier gefunden habe: Kollektive, soziale oder politische Organisationen, Persönlichkeiten aus der intellektuellen, künstlerischen, wissenschaftlichen oder politischen Welt. Ganz zu schweigen von all denen, die mir im Gefängnis schreiben oder sich an der Unterstützungskampagne beteiligen…

    Raus aus dem Niemandsland und der „Akte Budapest“

    Ich bin dabei, langsam Französisch zu lernen. Ich habe vor, im Land zu bleiben, bis die „Akte Budapest“ endgültig zusammenbricht. Dann könnte ich mich entscheiden, nach Finnland oder Italien zurückzukehren. Dort habe ich mein ganzes Leben verbracht. Tatsächlich habe ich in diesen beiden Ländern aus politischen Gründen keine Staatsbürgerschaft erhalten. In Italien habe ich mich für den Kampf um sozialen Wohnungsbau eingesetzt, und die Vermieter haben alle bei der Polizei denunziert.

    Aktivisten, Familien, jeder war (polizeilich) erfasst. Und für mich wurde auf dieser Grundlage, mit Anklagen und Vergehen, die zu unerheblich waren, um vor Gericht gebracht zu werden, mein Staatsbürgerschaftsantrag abgelehnt… Ich war ungefähr drei Jahre alt, als meine Eltern Albanien verließen. Ich spreche die Sprache nicht wirklich fließend, und ich habe sowieso keine Lust oder keinen Grund, dort zu leben.

    Ich habe die Artikel von L’Humanité seit meiner Inhaftierung in Fresnes gelesen, vielen Dank für die Arbeit. Es war schön, euch beim Besuch mit den Abgeordneten zu sehen, aber ich würde es vorziehen, woanders zu sein als in einer Zelle. Ich hoffe, ich bin das nächste Mal draußen. „